Halbierte Demokratie
Herjee, hab ich mich schon aufgeregt. Da verfolge ich seit Jahren die Politik und erfahre am Wahlsonntag im TV, dass die Wahlbeteiligung ausserordentlich hoch sei. Verzögerungen beim Auszählen seien die Folge. Die Resultate folgen spät. Die Politikerin in besagtem TV stützt sich aus Ermangelung der zuletzt gezählten Stimme nur auf Hochrechnungen. Und was hört man dann? 50% der Bürgerinnen und Bürger haben an diesem Urnengang teilgenommen. Genial: die Hälfte hat’s mitentschieden. Mein Sarkasmus grüsst.
Im ernst: Im arabischen Raum laufen Bürgerkriege um dieses Recht und die Gerechtigkeit des Rechts, das Recht auch auszuüben. Auf gewissen Inselstaaten werden die Wahlen vom Gericht kassiert, wiederholt, dann verschoben. Und wir Politisierende vor Ort sind stolz, dass wir die Hälfte unserer Wählerinnen und Wähler dazu animieren konnten, sich zu informieren und einen Wahlzettel auszufüllen. Da herrscht ein Ungleichgewicht.
Ich suche nach Wegen, dies zumindest vor Ort zu ändern. Erfahrungsgemäss startet das Interesse für Politik mit einem ganz bestimmten Auslöser. Das ist immer ein Thema, das sie oder ihn mitreisst. Danach sind auch diese Personen dabei, sammeln plötzlich Unterschriften für Petitionen, Referenden, Initiativen. Ich habe viele solcher Menschen kennenlernt. Sie wollen plötzlich teilnehmen. Sie haben herausgefunden, dass auch eine Einzelperson etwas bewirken kann. So soll es sein.
Konkret: Wie kann man den Menschen die Politik derart angenehm näher bringen, dass sie danach aus eigenem Antrieb mitmachen wollen? Meine Antwort: Wir brauchen einen Tag der Demokratie. Wenn die Menschen mehrheitlich nicht auf die Demokratie zugehen, dann müssen wir eben die Demokratie zu den Menschen bringen. Das klingt zwar abgedroschen, bedeutet aber, dass wir unsere Politik verständlicher, nachvollziehbarer und interessanter machen müssen. Es heisst, dass wir an einem solchen Tag zeigen müssen, was Demokratie kann und wovon sie lebt: Von verschiedenen Meinungen und der Tatsache, dass diese geäussert werden dürfen und sollen. Politik lebt von der Vielfalt der Meinungen, der Debatte.
Ich wünsche mir eines Tages im TV zu hören: „Heute war die Wahlbeteiligung mit 50% äussert tief“. So und nicht anders.