Mit sozialer Stadtentwicklung zu einer Stadt für alle?

Der Ausgangspunkt der sozialen Stadtentwicklung sind die Bewohnerinnen und Bewohner. Es ist eine Entwicklung und Planung mit den Menschen und nicht über sie. Ein Interview mit der Sozialgeographin Stephanie Weiss.

Andreas Wyss: Du bist Sozialwissenschaftlerin und beschäftigst dich mit Städten. Wenn man von Stadtentwicklung spricht, dann denken viele Menschen zunächst an das Bauen von Gebäuden, Strassen und weiterer Infrastruktur – also an Ingenieure und Architekten. Was meint der Begriff der sozialen Stadtentwicklung?

 

Stephanie Weiss: Der Ausgangspunkt der sozialen Stadtentwicklung sind die Bewohnerinnen und Bewohner. Es geht um ihr alltägliches Leben mit seinen verschiedenen Facetten und um ihre Möglichkeiten, ihre Lebensentwürfe umzusetzen oder aufrechtzuerhalten. Wohnen, einkaufen, versorgen, sich begegnen, zur Arbeit gelangen, Familie und Job vereinbaren und an den Möglichkeiten der Stadt teilhaben. Eine soziale Stadtentwicklung ist eine Entwicklung und Planung mit den Menschen und nicht über sie. Gerade Menschen, die an der formalen demokratischen Mitwirkung nicht beteiligt sind, weil sie nicht abstimmen oder wählen können wie beispielsweise Kinder, Jugendliche, Ausländerinnen und Ausländer, müssen berücksichtigt werden.

 

Ich beobachte bei aktuellen Gemeindeentwicklungen den Trend, dass zunehmend Sozialwissenschaftler/innen beigezogen werden, sei es beispielsweise bei Arealentwicklungen oder in städtebaulichen Wettbewerben. Wie kann das Wissen der Bevölkerung aus dem Gebiet integriert werden? Wie können gute nachbarschaftliche Verhältnisse aufgebaut werden? Wie werden Begegnungen im Quartier möglich? Es geht um eine ganzheitliche und inklusive Perspektive auf das Leben in den Städten und Quartieren.

 

Die Ausdrücke “Recht auf Stadt” oder “eine Stadt für alle” begegnen einem in der politischen Auseinandersetzung. Was bedeutet ein Recht auf Stadt für dich? Was wäre ein Quartier für alle?

 

Es geht um den Anspruch aller Bewohnerinnen und Bewohner auf Aneignung des Raums. Also ist die Frage der demokratischen Teilhabe an der Stadtentwicklung aus meiner Sicht ein sehr hohes Gut, verankert in der Schweizer Verfassung in einem demokratischen Staat. Praktisch sind es Fragen wie: Wem gehört der öffentliche Raum? Oder besser: Wer darf ihn mit welchen Möglichkeiten nutzen? Wie kann ein Quartier gestaltet werden, dass es Lernen und Begegnung ermöglicht, dass es Menschen unterschiedlicher Herkunft und in vielfältigen Lebenslagen gerecht wird? Und dass die Menschen von „ihrem“ Quartier sprechen, eine gewisse Verantwortung für ihren unmittelbaren Lebensraum übernehmen und sich damit auch entsprechend engagieren.

 

Wie siehst du die soziale Stadtentwicklung in Zürich?

 

Zürich hat eine durchaus lange Tradition einer sozialen Stadtentwicklung mit einer über 100jährigen Geschichte des gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Gerade letztere prägen die Stadt bis heute und übernehmen soziale Verantwortung. Aus der Planungsgeschichte betrachtet wurden in den 1980er Jahren – nicht nur in Zürich – Ideale zu einer bewohnergerechten Stadt formuliert, in dem das unmittelbare Wohnumfeld und das Quartier ins Zentrum rückten. Aus dieser Zeit stammt beispielsweise das Leitbild der Stadt der kurzen Wege und auch integrierte, modellhafte Projekte, in denen über integrierte Quartierentwicklung auch Sozialpolitik betrieben wurde.

 

Zudem wurde Zürichs Stadtentwicklung auch durch die Proteste in den 1980er Jahre geprägt, in denen mittels Besetzung aktivistisch Aneignungsprozesse von bestimmten Gruppen gelebt wurden. Damals wurden neue Formen des Zusammenlebens initiiert wie gemeinschaftliches Wohnen und Arbeiten und neue Genossenschaften gegründet, deren pionierhafte Projekte grösstenteils heute noch existieren. Nicht nur bei Professionellen in der Stadtentwicklung und den Pionieren neuer Wohnformen, sondern auch allgemein gibt es in der Bevölkerung ein grosses Verständnis von sozialen und räumlichen Zusammenhängen. Es ist deshalb arrogant, ihr diese Kompetenz abzusprechen und sie nicht einzubeziehen.

 

Wie wirkt diese Zeit bis heute nach?

 

Es ist heute kaum vorstellbar, aber die Grünräume, die heute in der Stadt Zürich so begehrt sind und auf die ein enormer Nutzungsdruck besteht, hatten noch vor 30 Jahren eine viel geringere Bedeutung im Alltag wie heute. Auch der Zugang zum See und zum Fluss als Naherholungsräume und Begegnungsorte, auch das Wohnen am Wasser wurden erst seit den 1980er-Jahre als Aufenthaltsorte kontinuierlich aufgewertet. Heute wissen wir, dass das Grün der Natur einen wichtigen positiven Einfluss auf die Menschen und ihr Wohlbefinden hat.

 

Dieses Wissen wirkt heute in den Planungsprozessen, wobei ich nicht ein allzu sozialromantisches Bild von den vielen guten öffentlichen Räumen in der Stadt Zürich zeichnen möchte. Das „Soziale“ wird zudem von vielen Arealentwicklern und Immobilieninvestoren beispielsweise in der Bedeutung guter nachbarschaftlicher Verhältnisse „entdeckt“, welches bereits in der Planung Berücksichtigung findet und somit keineswegs nur auf kurzfristige Rendite fixiert ist.

 

Zürich gibt sich einen kommunalen Richtplan als Planungsinstrument. Was erwartest du von diesem und wo siehst du noch Potenzial?

 

Ich gehe davon aus, dass der kommunale Richtplan mehrheitlich auch umgesetzt wird. Dies ist nicht selbstverständlich, denn Planen und Umsetzen sind zwei verschiedene Dinge. Gerade die Verdichtung wird kommen und ich bin überzeugt, dass diese der Stadt eine neue Qualität geben wird, die Zürich sehr gut tun wird.

 

Um bei dem Thema zu bleiben: Verdichtung wird häufig negativ gesehen, dabei geht vergessen, dass Dichte eine der wesentlichen Eigenschaften der Stadt ist. Ich bin der Meinung, dass wir den Diskurs über die Verdichtung umkehren müssen; weg von negativen Verlust-Szenarien hin zu einer neuen gemeinsamen Erzählung, wie Menschen im 21. Jahrhundert in Zürich und auch sonst in den Zentren Europas leben möchten. Mit Verdichtung werden soziale und kulturelle Angebote vermehrt, Wissen tauscht sich aus, die Angebote vor Ort werden vielfältiger und differenzierter, unterschiedliche Lebensentwürfe werden machbarer und selbstverständlicher und vor allem kommen sich Menschen näher und begegnen sich.

 

Wo liegt noch Potenzial?

 

Zürich ist wohlhabend, hat gut ausgebaute öffentliche Infrastrukturen und macht vieles gut und richtig. Ich frage mich, ob man nicht noch ein bisschen mutiger sein könnte. Ich denke an die Abgabe von politischer Entscheidungsmacht zugunsten der Quartierbevölkerung, beispielsweise durch die Schaffung von Bürgerhaushalten oder partizipativen Budgets (vom Quartier verwaltete Budgets, die durch Abstimmung von allen angemeldeten, nicht nur stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürgern unternommen werden können). Vielleicht könnte man sich auch ein bisschen stärker am ursprünglichen Stadtgedanken orientieren und das Chaotisch-heterogene der Stadt fördern, also einiges nicht planen, offen lassen oder anderen, nicht-Verwaltungslogiken folgen.

 

Aber auch andere Akteure können Ausgangspunkt sein, so geht es auch darum, sich das Recht auf Aneignung zu nehmen und mitzugestalten. In den 1980er-Jahren wurde ja auch nicht gefragt, ob man sich Räume aneignen darf. Wobei es heute zunehmend weniger Räume gibt, die sich zur Aneignung oder Besetzung eignen und hier viel stärker die Agglomeration in den Blick genommen werden muss.

 

Wo liegen die heutigen Probleme und blinden Flecken?

 

Die heutige Stadtentwicklung orientiert sich stark an einer Mittelschicht, wobei die untere Mittelschicht durchaus berücksichtigt wird. Schwierig wird es für armutsbetroffene Personen und Menschen, die nicht an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben können. Diese kippen wie raus und werden auch bei der demokratischen Mitwirkung nur ungenügend berücksichtigt.

 

Die Stadt Zürich hat sich zudem aus der Quartierkoordination, also ihrer integrierenden und vernetzenden Quartierarbeit, zurückgezogen und dieses Feld grösstenteils privaten Vereinen und Initiativen überlassen. Das mag meinem Eindruck nach durchaus für viele Interessensvertreter auf der Quartiersebene funktionieren, ist aber schwieriger für diejenigen, die nicht artikulationsstark sind und nicht ihre Anliegen einfordern können.

 

Darüber hinaus gibt es ein Dilemma, welches auch die Genossenschaften kennen. Das Sanieren bestehender Liegenschaften ist notwendig, gleichzeitig bedeutet dies häufig, dass günstiger Wohnraum teurer wird und Genossenschaften – als eine der Stakeholder in Quartieren – sich mit Fragen der Verdrängung auf der Quartiersebene, der Begleitung von Mietern und im Grunde mit sozialen Fragen auseinandersetzen müssen. Hier wird auch deutlich, dass Genossenschaften und Privaten Stadtentwicklungsaufgaben zukommen, die sie zwar aufgrund ihrer professionellen Kompetenzen erfüllen können, aber für die eigentlich nicht sie zuständig sind.

 

Was kann man machen, um diese Probleme zu lösen?

 

Praktisch könnte man sich überlegen, ob der Wohnungsbau für Menschen mit sehr geringem Einkommen stärker ausgebaut werden müsste. Wie schon gesagt, die untere Mittelschicht wird mitgenommen, was nicht heisst, dass es für diese auch sehr schwierig sein kann und man Zeit braucht, um eine angemessene Wohnung zu finden.

 

Grundsätzlich muss man sich fragen, für wen und in welchen Lebenskontexten es wirklich schwierig wird. Hier sind es Themen wie Armut und Menschen, die von Ausgrenzung betroffen sind. Diese werden in der Stadtentwicklung zu wenig berücksichtigt und sind wohl auch politisch wenig repräsentiert.

 

Ich selbst würde für eine stärke, emanzipatorische Verantwortung der Zürcher Sozialpolitik gegenüber ihrer Bevölkerung plädieren: Welche Stadt hat so viele Ressourcen und Potenziale, pionierhaft vorzugehen, um Vielfalt und soziale Inklusion in ihrer zukünftigen Entwicklung auf verschiedenen Planungs- und Umsetzungsebenen zu fördern?

Dr. Stephanie Weiss lebt in Zürich und ist Sozialwissenschaftlerin, Dozentin und Co-Studienleiterin des MAS Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung an der Hochschule Luzern. Sie beschäftigt sich intensiv mit Fragen zur sozialen Stadtentwicklung und mit der Integration von sozialen Themen in Planungsverfahren. >> mehr zu ihr